Eigentlich fingen meine Überlegungen mit einer Therapiegeschichte an; und doch, wie dieses Bild sehr schön zum Ausdruck bringt, betreffen die folgenden Aussagen mehr und unser aller Alltag.
Die Geschichte erzählt von einem 9jährigen Jungen, der neben einer sogenannten Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) noch viele andere Diagnosen in seinem Gepäck hatte.
Das Umfeld hatte immer wieder versucht, Hilfsangebote zur Verfügung zu stellen; doch im Erleben des Jungen waren diese wenig wirksam und verstärkten die Symptomatik eher, da er sich unverstanden fühlte.
Der Junge, seine Mutter und der Vater, die Lehrerin, die Sozialarbeiterin, der Kinderarzt erlebten die Situation mit dem Indexpatienten (latein. Index = Finger, also der auf den man zeigt, der, dem eine Störung zugeschrieben wird) je aus individueller Perspektive sehr unterschiedlich.
Der Junge konnte seine Situation in einem therapeutischen Gespräch in einem Bild verdeutlichen, in dem er seine innere Welt als getrennt von den anderen als eine Insel beschrieb. Dort auf der Insel ist es so wie „ich will“, auf dem Festland, da wo z.B. die Eltern und die Schule sind, herrscht „ich muss“.
Auch wenn die Außenstehenden es gut meinen, so kommt doch keine Verbindung zustande, da „Sollen und Müssen“ nicht im Einklang mit „Wollen“ stehen und so keine Kooperation möglich wird. Die Welten sind monologisch* getrennte Welten; jeder ist letztlich mit sich beschäftigt.
(* Monolog – griech. mónos = allein + lógion = (Aus)Spruch, also ein innerer Dialog, ich mit mir – ohne Kontakt nach außen)
Um hier in mutmachender Weise in einen dialogischen* Prozess zu kommen, braucht es zunächst die Bereitschaft zuzuhören und sich einzufühlen, statt es als erfahrener Erwachsener besser zu wissen.
Es bedarf eines sicheren Raumes, in dem Austausch auf einer Vertrauensbasis zu echter, interessierter Begegnung ohne Bewertung möglich wird, so dass sich die Beteiligten berührt und wertschätz erleben. Dann kann es gut sein, dass der Prozess als solcher eine Eigendynamik entwickelt, dass der Zwischenraum, der im Dialog entsteht, neue Perspektiven eröffnet und der Prozess die Dialogpartner sozusagen zu „führen“ beginnt.
(* Dialog – grich. diálogos = Unterredung, Zwiegespräch – ein Hin-und-Her der Argumente und Gesichtspunkte)
Wie Martin Buber, der dialogische Vordenker und Philosoph, sagte: „Die eigentliche Wirklichkeit entsteht im Dialog, in der Begegnung, im Prozess, im Dazwischen.“
Bei genauem Hinschauen ist leicht zu erkennen, wie diese Aspekte all unsere Kontakte und Begegnungen in der Familie, mit Kollegen, Kunden usw. betreffen.
Gerade in unsicheren Zeiten gilt es, dafür zu sorgen, dass wir uns im Kontakt wechselseitig sicherer fühlen können; indem wir anerkennen, dass der andere mit einem anderen Kopf denkt und als eigenständig gewürdigt sein möchte, so wie wir.
Dafür brauchen lebende Systeme ein ständiges Ausbalancieren zwischen möglichen Polen, zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Vorhersagbarkeit und Zweifel, zwischen dem Verfügbaren und dem Unverfügbaren. Zugleich gilt es, diese Ambivalenz, dieses Hin- und Her, dieses Schweben und Dazwischensein auszuhalten … bis es klarer wird und Entscheidungen getroffen werden können, hinter denen man dann auch stehen kann, die man umsetzt.
Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von Resonanz und meint damit das Verstanden-werden von und durch andere Menschen, das ein Aufhören (z.B. schon beim Zuhören eigene Antworten formulieren), ein wirkliches Hinhören und Zuhören braucht. Denn der Mensch ist ein soziales Wesen, das auf die Kommunikation und den Austausch mit anderen angewiesen ist. Im Gleichklang bzw. im harmonischen Zusammenklang, mit Gleichgesinnten, sich verstanden fühlend, beachtet wissend, wird eine besonderes Glück empfunden.
Auf den Architekten Buckminster Fuller geht das Tensegrity-Prinzip (engl. aus tension = Zugspannung und integrity = Ganzheit, Zusammenhalt) zurück. Er meint, wir Menschen hätten uns daran gewöhnt, unsere Bauten Stein auf Stein zu setzen, also fest auf fest. Deshalb hätten wir den Eindruck, das sei stabil und würde uns Geborgenheit und Sicherheit ermöglichen. Doch um erdbebensichere, erschütterungsbeständige Strukturen entwickeln zu können, müssten die Zwischenräume in den Blick kommen. Die wichtigen Verbindungen seien eben nicht die festen Elemente, sondern die weichen, flexiblen, dynamisch gestalteten Zwischenräume, die man fast nicht sieht. Sie sind die wirklichen Stabilisierungselemente, die eine Balance halten können.
Für unseren Alltag könnte die Beachtung von Zwischenräumen z.B. bedeuten,
öfter einmal bewusst zu atmen, insbesondere auszuatmen und die Zeit zwischen Worten zu dehnen, so dass das Großhirn Zeit hat, kreative Antworten zu finden, statt der schnellen reflexartigen Reaktionen die nur zu Standardantworten führen;
es könnte bedeuten,
öfter den Weg in die Natur zu suchen, um die Eindrücke z.B. der verschiedenen Grün oder Gerüche zu unterschiedlichen Jahreszeiten wahrzunehmen;
es könnte aber auch bedeuten,
in Konfliktsituationen zunächst Abstand zu suchen – mit Ansage, dass man wiederkommt und den Dialog geklärter fortsetzt. Denn in Erregungssituationen ist das konstruktive Denken ist blockiert, sind in der Regel nur noch Notfallprogramme aktiv, so dass Eskalationen prozesshaft nahezu zwangsläufig sind.
Das lässt sich durch Unterbrechungen vermeiden; so dass man in den Pausen nach Unterschieden suchen kann, die einen Unterschied machen würden oder in denen die eigenen verletzlichen Triggerpunkte identifiziert werden.
Dann lässt sich z.B. nach dem Ampel Modell verfahren: auf „Grün“ = konstruktiver, sachgerechter Dialog möglich, „Gelb“ = Emotionalisierungen könnten den Blick vernebeln und „Rot“ = hier nicht weiter: Pause!
Wenn das Mütchen abgekühlt ist, kann es konstruktiv miteinander weitergehen. Die Gegenargumente, die mir (zunächst) nicht gefallen, haben ja durchaus Aspekte, die ergänzend oder zuspitzend etwas klarer machen können. Im Dazwischen und im Miteinander wird der Weg liegen, der gangbar ist. Im „Dagegen“ entsteht nur kraftraubender Stillstand.
Bei all dem geht es um „bezogene Individuation“, wie der der Psychoanalytiker Helm Stierlin nannte. Es geht um die Frage: „Wie können wir uns in Bezogenheit auf unsere Umwelt und Mitmenschen als Individuum entfalten?“
Letztlich können wir nie alleine.
Daher geht es immer um das, was uns selbst gut tut und uns zugleich wechselseitig stärkt.
Die Idee guter Balance erfordert dabei immer wieder neu das Ausbalancieren zwischen mir und den anderen, zwischen Freiheit und Ordnung, zwischen Autonomie und Kontrolle, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Geben und Nehmen – im beständigen Hin- und Her-Pendeln. Das ist eine große Herausforderung!; eine die Bereitschaft, Vertrauen und Freiwilligkeit erfordert.
Gerade das Vertrauen ins Vertrauen, in den Prozess, in das Loslassen vom kontrollieren müssen, um sich scheinbar sicher zu fühlen, ist dabei die große Herausforderung. Und zugleich ist es nur die Bereitschaft, der inneren Sehnsucht zu folgen, dem Leben vertrauend, staunend und neugierig zu begegnen. Nach dem Motto: „Ich weiß zwar noch nicht, wie es geht, und trotzdem mache ich den nächsten Schritt. Es scheint Ahnungen in mir zu geben, denen ich folge. Mein Körper, mit dem ich unterwegs bin, scheint Dinge in sich zu tragen, mit denen er mich auch irgendwohin trägt, der mit somatischen Markern/Empfindungen Zustimmung oder Widerstand signalisiert, der über eine feinsinnige Intuition verfügt. Auch wenn ich bewusst gar nicht weiß, wohin die Reise geht, so lasse ich mich doch auf einen Such- und Finde-Prozess ein, in dem nicht schon (vorab) alles klar ist (das ist es ja sowieso in der Regel nicht).“
Das könnte es für mein Verständnis bedeuten, schließlich bleibt die Frage: „Für welche Welt will ich unterwegs sein?“
Foto: Sascha Lember